Der medizinische Begriff für Kurzsichtigkeit lautet bildungsbürgerbekanntlich Myopie. Es ist eine Sehstörung, bei der das Auge ein Objekt VOR anstatt AUF der Netzhaut fokussiert – ein Abbildungsfehler, der weit entfernte Objekte unscharf erscheinen lässt und Herrn Fielmann auch auf lange Sicht ein sehr solides Auskommen sichert.
In der Schattenarbeit passiert häufig etwas sehr Ähnliches: Wenn KlientInnen auf ihre Kindheit schauen und versuchen, die Momente zu fokussieren, in denen sie ihre Schatten ausgebildet hatten, in denen sie also mit ihren Gefühlen so überfordert waren, dass sie Teile von sich abspalteten, um den gefühlt unaushaltbaren Schmerz auszuhalten, dann wirken diese weit entfernten Ereignisse seltsam unscharf. Eine Art „Emotionale Myopie“ stellt sich ein; es gelingt uns vielleicht noch, die äußeren Umstände klar zu sehen, aber der Fokus auf die inneren Umstände unserer Kindheit, ein präziser Blick auf die Akteure und die Gefühlswelt unserer Kindheit, der will sich nicht einstellen.
Die Sehhilfe dafür lautet Mitgefühl: Wenn wir 20, 30 oder 40 Jahren nach dem Ereignis im wahrsten Sinn des Wortes nach/empfinden wollen, was uns damals passiert ist, dann geht es tatsächlich nur so – durch Empfindung. Mit dem Verstand kommen wir in unsere Gefühlswelt nicht hinein, nur mit dem Gefühl. Konkret: Mit dem Mitgefühl für unser damaliges Sein. Denn wenn wir als Erwachsene auf unsere Kindheit schauen, dann kommen uns ohne Mitgefühl alle Momente der Schattenentstehung, also diese Zeiten seelischer Verzweiflung aus heutiger Sicht irgendwie unglaubwürdig vor, geradezu klein, also: fast schon läppisch. Ich soll wegen diesem bisschen Eifersucht auf meine Schwester alles Weibliche aus meinem Leben verbannt haben? Ich soll wegen der einen, na gut: vielleicht auch wegen der zwei oder drei Ohrfeigen meiner Mutter innerlich derart auseinandergefallen sein? Mich soll meine Legasthenie in der Schule insgeheim um alle Zuversicht und um allen Glauben an meinen Erfolg gebracht haben? Und Sie meinen tatsächlich, die dauernden Affären meines Vaters haben mein Verhältnis zu Männern ruiniert? Also, ich weiss nicht …
Sie brauchen für die genau Abbildung Ihrer Kindheit Mitgefühl mit sich selbst. Und ein guter Rat, um ins Mitgefühl, in die Empfindung mit sich selbst zu kommen, der lautet – Lyrik. Fangen Sie an, Gedichte zu lesen. Die großen, die mächtigen Worte sind große, mächtige Brücken in Ihre Gefühlswelt. Lesen Sie jeden Tag eines, zu Beginn laut, und so, als ob hinter jedem Wort ein Punkt stünde. Nach einer Woche lesen Sie so viele Gedichte wie Sie wollen und nach 2 Wochen lernen Sie ein Gedicht auswendig – eines, das Sie herztief berührt. Ob wir da Empfehlungen haben? Ein guter Anfang sind die Liebesgedichte von Bertold Brecht.
„Guten, sagt er. Morgen, sagt sie.“
So einfach, so very charming geht es manchmal beim streng dreinschauenden Brillenträger Brecht zu. Von Rainer-Maria-Rilke können Sie alles lesen, denn alles ist wunderbar. Und wenn Sie sich wirklich schwer tun mit den beiden und auch mit der weich-schwärmerischen Hilde Domin oder dem genau beobachtenden Theodor Storm oder dem messerschaft-witzigen Joachim Ringelnatz, dann empfehlen wir japanische Haikus. Haikus sind Dreizeiler aus reinster Resonanz, voller Anmut und – wunderbar kurz.
Adler lieben sich im Fallen,
er ist weit der Boden.
Das ist der Seele bekannt.
Und plötzlich passiert es: Es reimt sich vieles in Ihrem Leben zusammen …