13 / 10 / 21
LEUCHTSPUR. Der Blog von Stefanie Körber und Stefan Pott

Die Katastrophe des plötzlich tatsächlich und wirklich eintreffenden Glücks.

Knapp unterhalb des Gipfels des Mount Everest befindet sich der sog. Hillary Step: Ein letzter, steiler Anstieg kurz vor dem Ziel, der nach dem Erstbesteiger des Berges, Sir Edmund Hillary, benannt ist. Obwohl bergtechnisch die größten Strapazen zu diesem Zeitpunkt längst bewältigt und alle ausgewiesen lebensgefährlichen Stellen bereits überwunden sind, ereignet sich an exakt dieser Stelle ein hoch (8.848 Meter) interessantes Drama:

Den Gipfel vor Augen wollen viele Bergsteiger nicht mehr weiter.

Verwirrung.

Nervenzusammenbruch.

Panik.

Hillary selbst berichtete, dass er an dieser Stelle aufgeben wollte. Nicht vor Erschöpfung oder weil diese Passage dramatisch schwierig zu überwinden gewesen wäre: Er hatte plötzlich das Gefühl, dass die Gipfelbesteigung als Ganzes falsch sei, dass es genug sei, es bisher geschafft zu haben, dass dies die letzte Gelegenheit zur Umkehr darstellen und sich jedes Weitergehen sich schon bald als raffiniert getarnter Fehler herausstellen würde, womöglich als Katastrophe, als tragisches Wie-konnte-ich-nur. Eine Kaskade aus Unsinn und Verwirrung, körperlichen Aufregungen und im Sekundentakt auftauchenden bösen Ahnungen bricht am Hillary Step offenbar in Köpfen und Herzen los, und zwar mit einer Wucht wie an anderen Stellen die Lawinen …

Nicht nur himmelhoch auf dem Berg, auch imTal des ganz normalen Lebens gibt es dieses Phänomen – wenn das Glück kommt, wenn es nah ist und tatsächlich in unserer Reichweite, dann können wir es buchstäblich nicht fassen. Zum Beispiel, wenn wir wir plötzlich der Liebe begegnen, an die wir kaum noch glauben konnten. Oder wenn die Frau/der Mann an unserer Seite sich nach zermürbenden Monaten oder Jahren auf einmal wirklich verändert, scheinbar über Nacht so liebevoll und offen und interessiert nach unserer Hand greift, wie wir es uns immer gewünscht haben. Oder wenn wir das Kind bekommen, das gar nicht mehr möglich schien. Oder wenn wir uns eines Tages mit allem Mut selbstständig machen und dann tatsächlich Erfolg haben.

Wenn uns „das Glück droht“, wenn wir also unserem wahren Sein ein Stück näher kommen, dann passiert oft genau das, was Edmund Hillary beschrieben hat: Wir häufen einen Mount Everest an Bedenken und Zweifeln an, wir zögern die nötigen Entscheidungen hinaus und machen nicht mehr weiter. Wir hören dann auch nicht mehr auf die freudvollen und mutigen Menschen um uns herum, sondern auf die angstvollen und kopfschüttelnden und gerne legen wir uns von Appetitlosigkeit bis Zahnknirschen alles an Beschwerden zu, was die Psychosomatik hergibt.

Im schlimmsten Fall zerstören wir, was wir uns von Herzen gewünscht hatten.

Es ist das untrügliche Kennzeichen allen echten, wahrhaftigen Glücks, daß es uns etwas abverlangt, daß wir es nicht ohne Anstrengung bekommen. Was leicht ist, ist oft nur ein schwerer Fehler. Also bitte immer das tun, was Edmund Hillary letztendlich auch getan hat:

Gehen Sie weiter.

Womöglich zitternd, womöglich bebend, das mag sein.

Aber gehen Sie weiter …