Es genügt neuerdings ein Elternabend, eine längere Fahrt mit dem Zug oder ein unfreiwillig mitgehörtes Gespräch am Tisch hinter einem und ein seltsamer Eindruck drängt sich auf – die Psychologie übernimmt gerade die Sprache.
Wohin man auch hört: Praktisch jeder ist gerade von irgendetwas getriggert und überall lauert ein Trauma; in jeden wird etwas hineinprojiziert und wir alle sagen nicht einfach etwas, sondern spiegeln irgendjemandem irgendetwas. Beziehungen sind quasi grundsätzlich toxisch, Arbeitsverhältnisse aber auch und der Kollege R. erscheint völlig manisch, so wie der sich benimmt, während die Kollegin H. hartnäckig alle Red Flags ignoriert, die das Team ihr gesetzt hat, da agiert dann wohl das Innere Kind.
Woher kommt dieser inflationäre Psycho-Speak, dieses „Psüchisch„, wie wir es hier einmal nennen wollen? Warum werden Alltagserfahrungen plötzlich als komplexe medizinische Gebilde beschrieben und die Banalitäten des Lebens als hochinteressante Bedeutungsschwangerschaften ausgegeben?
Ist das ein Zeichen für Fortschritt und Öffnung? Wird damit eine zunehmende Bereitsschaft und Fähigkeit abgebildet, über Gefühle zu sprechen? Ist das alles daher unbedingt zu fördern und gutzuheissen, weil damit der Gefühlswelt endlich der Raum gegeben wird, den sie verdient?
Wir haben da unsere Zweifel: Denn das Herumwerfen mit psychotherapeutischen Worthülsen beschreibt weder wirkliche Gefühlskompetenz noch irgendein wirkliches Interesse am Gegenüber. Es findet nämlich auffällig oft zum Zwecke der eigenen Selbstdarstellung und Selbstveröffentlichung statt – sich über trigger zu beklagen, klingt dramatischer und gefühlskompetenter, als einfach nur genervt zu sein. Ein burn-out hat sprachlich einfach mehr Wucht und Klasse, als sich überfordert zu fühlen. Mit „Psüchisch“ will nicht so sehr etwas gesagt werden, sondern es soll etwas bestimmt werden, nämlich wer Recht hat. Man kann auf diese Art eine gefühlskompetente und empathische Persönlichkeit darstellen ohne wirklich gefühlskompetent und empathisch sein zu müssen. Viele Menschen breiten ihr Seelenleben zudem gerne im Internet aus, wo auf jeden Post mit #Traumadump ein Like, und auf jeden Like ein Dopaminstoß folgt. Der Satz „Ich wurde von einem pathologischen Narzissten geghostet“ klickt ungleich besser als „Ich Trottel bin auf einen Idioten hereingefallen“.
Das authentische und wirksame Sprechen über Gefühls- und Seelenwelten wäre seinem Wesen nach etwas ganz anderes – ein sehr diskreter und privater Akt, der nur in begrenztem Maß Öffentlichkeit verträgt und nur in sehr begrenztem Maß Rechthaberei oder Ungenauigkeit. Die Dauerpsychologisierung des Alltags klärt und erklärt die Dinge nicht, im Gegenteil – sie verwischt sie.
Und wer weiss, vielleicht ist das am Ende auch der wahre Grund für dieses sprachlose Sprechen – „Psüchisch“ ist eine Benutzeroberfläche, mit der eine echte innere Öffnung und eine echte Berührbarkeit vermieden wird. Wenn wir aufrichtig und ungekünstelt sein wollen, dann müssen es auch unsere Worte sein.
Wenn Sie das jetzt triggern sollte: Wir können uns natürlich jederzeit ganz untoxisch über ihre Muster unterhalten …
Heute hat das Neue Jahr begonnen. Zweitausenddreiundzwanzig. Im chinesischen Horoskop ist es das Jahr des Hasen, der für Frieden und Wohlstand steht. Das klingt nicht wirklich logisch, aber immerhin vielversprechend und wir freuen uns, daß endlich das wilde Jahr des Tigers abgelöst wird – denn gemessen an all diesen fauchenden und brüllenden Ukraineüberfällen, Katar-WMs und Trumpauftritten war selbst Shere Khan aus dem Dschungelbuch eine geradezu friedlich schnurrende Katze.
Wenn wir allerdings etwa neu wollen, wenn wir etwas in der Welt neu wollen und sei es nur in der eigenen Welt um uns herum, dann ist in der Regel deutlich mehr nötig als nur der Anfang eines neuen Jahres, sei es nun das von Hase, Tiger oder dem schwarzgefiederten Blaukehlchen – dafür ist immer ein wirklich neues Tun nötig. Albert Einstein konnte witzig sein, er hat einmal beschrieben, was aus seiner Sicht ansonsten passiert: „Immer wieder das Gleiche zu tun, aber andere Ergebnisse erwarten – das ist die Definition von verrückt.“
Eine der wichtigsten Fähigkeiten, die wir Klientinnen und Klienten in der Schattenarbeit daher vermitteln, ist die Fähigkeit zur konkreten Veränderung. Wer etwas verändern will, braucht immer ein reales Anders-Tun-Als-Bisher. Es geht darum, auf bekannte Situationen und altbekannte Themen neu zu reagieren, in Gesprächen neue Worte oder Argumente zu haben oder neue Handlungen zu setzen – ganz egal, ob es dabei um Ihre Partnerschaft geht, den Beruf oder den Umgang mit Ihrer Familie.
Die 1. Veränderungsregel lautet: Fangen Sie mit einer kleinen Veränderung an. Selbst eine sehr große Wandlung besteht im Kern aus vielen kleinen Wandlungen, der „große Schnitt“ bzw. der „große Schritt“ ist meist nur großes Drama.
Die 2. Veränderungsregel lautet: Finden Sie das Hindernis in sich. Die wirkliche Bremse ist selten im Außen, sie ist in Ihnen selbst; finden Sie heraus, was Sie aufhält, woher Ihre Angst kommt oder was Sie zu verlieren meinen. Wenn darauf Licht fällt, dann zeichnet sich am Rande dieses Lichtscheins immer auch ein Weg ab.
Wenn Ihnen das heute nicht mehr gelingt, machen Sie sich nichts draus. Am 1. Tag des Jahres ist auffällig selten etwas von Belang passiert. Die Abspaltung der Republic Yucatan von Mexiko im 19. Jahrhundert sowie der Erlass der sogenannten Jenaer Fussballregeln sind schon das höchste der Wikipediagefühle (die Jenaer Fußballregeln legten Ende der 1890er Jahre erstmals schriftlich fest, daß auf einem Fussballplatz keine Bäume stehen dürfen sowie nicht mehr als zwei Tore; man ist fast versucht, diese Regeln sofort rückgängig zu machen, weil man doch gerne sehen möchte, wie Lionel Messi auf 2 Tore gleichzeitig zuläuft … oder Roland Lewandowski an einem Baum vorbeisprintet … hinter dem sich, raffiniert wie er ist, David Alaba … ach lassen wir das!)
Sie haben ja noch morgen, um mit dem neuen Leben zu beginnen. Und dann noch 363 Anfänge …
Knapp unterhalb des Gipfels des Mount Everest befindet sich der sog. Hillary Step: Ein letzter, steiler Anstieg kurz vor dem Ziel, der nach dem Erstbesteiger des Berges, Sir Edmund Hillary, benannt ist. Obwohl bergtechnisch die größten Strapazen zu diesem Zeitpunkt längst bewältigt und alle ausgewiesen lebensgefährlichen Stellen bereits überwunden sind, ereignet sich an exakt dieser Stelle ein hoch (8.848 Meter) interessantes Drama:
Den Gipfel vor Augen wollen viele Bergsteiger nicht mehr weiter.
Verwirrung.
Nervenzusammenbruch.
Panik.
Hillary selbst berichtete, dass er an dieser Stelle aufgeben wollte. Nicht vor Erschöpfung oder weil diese Passage dramatisch schwierig zu überwinden gewesen wäre: Er hatte plötzlich das Gefühl, dass die Gipfelbesteigung als Ganzes falsch sei, dass es genug sei, es bisher geschafft zu haben, dass dies die letzte Gelegenheit zur Umkehr darstellen und sich jedes Weitergehen sich schon bald als raffiniert getarnter Fehler herausstellen würde, womöglich als Katastrophe, als tragisches Wie-konnte-ich-nur. Eine Kaskade aus Unsinn und Verwirrung, körperlichen Aufregungen und im Sekundentakt auftauchenden bösen Ahnungen bricht am Hillary Step offenbar in Köpfen und Herzen los, und zwar mit einer Wucht wie an anderen Stellen die Lawinen …
Nicht nur himmelhoch auf dem Berg, auch imTal des ganz normalen Lebens gibt es dieses Phänomen – wenn das Glück kommt, wenn es nah ist und tatsächlich in unserer Reichweite, dann können wir es buchstäblich nicht fassen. Zum Beispiel, wenn wir wir plötzlich der Liebe begegnen, an die wir kaum noch glauben konnten. Oder wenn die Frau/der Mann an unserer Seite sich nach zermürbenden Monaten oder Jahren auf einmal wirklich verändert, scheinbar über Nacht so liebevoll und offen und interessiert nach unserer Hand greift, wie wir es uns immer gewünscht haben. Oder wenn wir das Kind bekommen, das gar nicht mehr möglich schien. Oder wenn wir uns eines Tages mit allem Mut selbstständig machen und dann tatsächlich Erfolg haben.
Wenn uns „das Glück droht“, wenn wir also unserem wahren Sein ein Stück näher kommen, dann passiert oft genau das, was Edmund Hillary beschrieben hat: Wir häufen einen Mount Everest an Bedenken und Zweifeln an, wir zögern die nötigen Entscheidungen hinaus und machen nicht mehr weiter. Wir hören dann auch nicht mehr auf die freudvollen und mutigen Menschen um uns herum, sondern auf die angstvollen und kopfschüttelnden und gerne legen wir uns von Appetitlosigkeit bis Zahnknirschen alles an Beschwerden zu, was die Psychosomatik hergibt.
Im schlimmsten Fall zerstören wir, was wir uns von Herzen gewünscht hatten.
Es ist das untrügliche Kennzeichen allen echten, wahrhaftigen Glücks, daß es uns etwas abverlangt, daß wir es nicht ohne Anstrengung bekommen. Was leicht ist, ist oft nur ein schwerer Fehler. Also bitte immer das tun, was Edmund Hillary letztendlich auch getan hat:
Gehen Sie weiter.
Womöglich zitternd, womöglich bebend, das mag sein.
Aber gehen Sie weiter …
(Voilà, hier kommt das Ende der Geschichte von den Tigern und den Eisbären, und ja, es ist ein Happy End …)
Tiger sind nicht besser als Eisbären und Eisbären sind nicht besser als Tiger. Sie sind nur anders. Grob gesagt sorgen Eisbären für das Gelingen von Gruppen, für Regeln und Anpassung, für Stabilität und Normalität; sie schätzen die Zufriedenheit und ihr Gefühlsleben sucht die Mitte – das Leben mit und neben ihnen ist oft angenehm leicht. Tiger wiederum sorgen für Ausbruch und Veränderung, sie stehen für Eigenheit und Kampf; ihr Gefühlsleben ist vielfach dramatisch und sie kennen sich aus mit Schmerz und Leid – das Leben mit und neben ihnen ist wirklich nicht langweilig, aber selten ist es leicht.
Die beiden sind unterschiedliche „Herzwesen“. Das ist etwas anderes als der Charakter oder die Persönlichkeit und es ist auch nicht die Seele. Es ist vielmehr die emotionale Lebenshaltung, mit der wir durch unser Leben gehen und die wir lebenslang beibehalten. „Tiger“ oder „Eisbär“ sind die Brillen, mit denen wir das Leben emotional anschauen – sie bestimmen, was wir sehen können, sie bestimmen aber auch, wie wir die Dinge sehen. Der Winterschlaf zum Beispiel ist für Eisbären ein Freudenfest, aber für Tiger ähnelt das monatelange Stillhalten eher einem lebendigen Begräbnis. Und genauso sind Familie und Gruppenglück, Pauschalreisen und lustiges Beisammensein, Weihnachtsfeiern und Es-so-machen-wie-alle-es machen für Eisbären der normale modus vivendi, während Tiger all das oft nur mit Mühe bewältigen und ertragen können. Sie bevorzugen das Für-Sich-Sein, das Selbstentscheiden, den Alleinstand.
All das gilt vor allem dort, wo wir auf unsere Herzqualitäten wirklich angewiesen sind – in der Liebe. Wenn es Partnerschaft und Beziehung geht, ist das gemeinsame Herzwesen wohl tatsächlich das große Geheimnis für eine gelingende Beziehung; wir können an unserem Herzwesen nicht vorbeileben, wir können daran definitiv nicht vorbeilieben.
Das Modell von Eisbär und Tiger ist daher ein gutes Familienmodell, ein sehr gutes Kinder-besser-verstehen-Modell, aber es ist vor allem ein wunderbares Partnerschaftsmodell. Wir haben bei der Wahl unserer Partner nicht wirklich eine Wahl – wir brauchen ein gleiches Herzwesen. Tiger brauchen einen Tiger. Und zumindest am Anfang gelingt ihnen das selten. Tatsächlich beginnen die meisten Tiger ihr Liebesleben mit einem Irrtum: Sie heiraten einen Eisbären bzw. eine Eisbärin, weil der Mut zum eigenen Weg noch nicht da ist, dafür jedoch eine übermächtige Sehnsucht nach Familie und Zugehörigkeit.
Tiger müssen dann weitergehen, weitersuchen. Sie werden es müssen, wenn sie Glück und Liebe suchen – mit Eisbären finden sie nur Kompromisse und Befremdung und am Ende doch immer nur Vorwürfe und Unverständnis. Tiger finden daher oft sehr spät die Liebe – dann aber die große.
Dazu noch ein Wort: Sie kommt selten auf Samtpfoten daher, die Tigerliebe – da werden Krallen ausgefahren und es wird gebrüllt, schließlich treffen da zwei sehr eigene Wesen aufeinander; und es wird immer wieder die Trennung angedroht, der Abstand bemüht und die Zurückweisung verwendet, denn vom Alleinsein, vom Alleinsein, davon verstehen Tiger etwas! Tiger müssen daher etwas lernen, das ihnen schwerfällt, das ist der „Mut zum Bleiben“ – er lohnt sich. Denn wenn Tiger lieben, dann lieben sie sehr.
Und das liebt die Liebe …
(Eine fabelhafte Geschichte für alle, die in ihrer eigenen Familie fremd sind.)
Es war einmal eine Eisbärenfamilie. Muttereisbär, Vatereisbär, dazu zwei Kindereisbären, die taten, was Eisbären eben so tun: Sie waren sehr weiß, liebten die Kälte und taten sich am Fisch gütlich, den sie mit ihren riesigen Pranken aus dem Wasser zwischen den Eisschollen zogen und wenn der Tag ein besonderer war, dann verspeisten alle zusammen eine der Robben, die sich im Eismeer unter ihnen tummelten wie anderswo die Schwalben am Himmel.
Es war eine gute Eisbärenfamilie, und um sie herum waren andere Eisbärenfamilien, die alle EISBÄRENFELLHAARGENAU so lebten wie sie, niemand machte etwas anders oder war anders und das war für alle sehr beruhigend, denn wenn alle so lebten, wenn wirklich alle um einen herum so lebten – dann musste das wohl richtig sein. Und alles andere entweder falsch oder bedeutungslos.
Eines Tages aber passierte etwas sehr Besonderes: In die Eisbärenfamilie wurde ein Tiger geboren. Er hatte ein bernsteingelbes Fell und unruhig über den ganzen Körper verlaufende schwarze Streifen, außerdem eine Vorliebe für Wärme und Farben und eine substantielle Abneigung gegen Fisch, die nur noch von seiner Abneigung gegen Robben übertroffen wurde. In seinen Träumen kamen keine Eisberge vor, sondern rauschende Bambuswälder und ein dunkelgrüner Dschungel voller Farben und Geräusche.
Am fremdesten, am unbegreiflichsten und am unmöglichsten war dem Tiger aber der Winterschlaf, zu dem sich die Eisbären jedes Jahr zurückzogen – jedes Mal freudig und mit ihrem allerdicksten weißen Pelz bekleidet. Der Tiger hatte versucht, diese monatlange Bewegungslosigkeit in einer kalten, dunklen Höhle zu ertragen, er hatte es wirklich versucht, aber es war ihm unmöglich. Und je älter er wurde, um so mehr brachten ihn diese Tage, Wochen und Monate der Verzweiflung näher, vor der er sich nur retten konnte, indem er einsam im großen Weiß herumlief – diesem unendlich großen Weiß, das ganz eindeutig nicht seine Welt war und wie es schien trotzdem immer seine Welt sein würde.
Der Eisbärenfamilie war natürlich nicht entgangen, dass da ein ganz besonderes Wesen unter ihnen war. Dieses Kind war anders, irgendwie, und sie reagierten darauf, wie sie auf alles reagierten, was ihnen fremd war – gar nicht. Sie taten einfach so, als ob nichts wäre, jedenfalls nichts, was in irgendeiner Form eine Veränderung oder Reaktion von ihrer Seite erfordert hätte. Sie konnten nicht verstehen, was oder wer da plötzlich bei ihnen war, sie nahmen nur das Anderssein wahr und entwickelten daraus die Entschlossenheit, darauf in keiner Form einzugehen. Denn ihre Welt war eine Eisbärenwelt.
Sie waren die Vielen.
Und dieser Umstand gab ihnen ganz still, ganz heimlich, ganz lautlos ein ganz wunderbares Gefühl, eine Kraft und Sicherheit, die jeder einzelne Eisbär wenn schon nicht ausstrahlen, so jedoch tief innen für sich empfinden konnte:
Sie waren die Richtigen.
Obwohl Gedanken nirgendwo geschrieben und nirgendwo zu hören sind, konnte der Tiger diese Gedanken auf der Stirn seiner Eltern lesen und auch auf der Stirn seiner Geschwister und der zahlreichen Onkel und Tanten, Freunde, Bekannten und Nachbarn der Eisbärenfamilie. Jeden einzelnen Buchstaben konnte er lesen und als er es zum ersten Mal las, da kroch ein Gefühl in ihm hoch, das sich anfühlte, als ob das Herz erfrieren würde, und zwar von innen, nicht von außen. Und der Tiger wusste, wie dieses Gefühl hieß, es hieß „Fremdheit“ und er erlebte es in seiner schlimmsten Form nämlich der „Nichtdazugehörfremdheit“, deren allerschlimmste Form wiederum die „Inderfamilienichtdazugehörfremdheit“ war. Es war das schrecklichste Gefühl der Welt, fand der Tiger, noch viel schrecklicher als die Kälte und der Fisch und als der Tiger wieder einmal gelb und schwarz auf blau gefrorenen Pfoten durch das Große Weiß streifte, während die anderen Winterschlaf hielten, da fasste er einen Entschluss: Er beschloss, mit dem schrecklichsten Gefühl der Welt Schluss zu machen und endlich so zu werden, wie alle anderen um ihn herum – ein Eisbär unter Eisbären, ein Teil der Welt, so wie sie nun einmal war, niemandem mehr fremd und vor allem nicht mehr fremdartig. Der Tiger beschloss, ein Eisbär zu werden…
(Sie ahnen es: Das wird nicht funktionieren. Aber es wird den Tiger auf den richtigen Weg bringen und wie der aussieht, das steht im nächsten Blog.)
Der medizinische Begriff für Kurzsichtigkeit lautet bildungsbürgerbekanntlich Myopie. Es ist eine Sehstörung, bei der das Auge ein Objekt VOR anstatt AUF der Netzhaut fokussiert – ein Abbildungsfehler, der weit entfernte Objekte unscharf erscheinen lässt und Herrn Fielmann auch auf lange Sicht ein sehr solides Auskommen sichert.
In der Schattenarbeit passiert häufig etwas sehr Ähnliches: Wenn KlientInnen auf ihre Kindheit schauen und versuchen, die Momente zu fokussieren, in denen sie ihre Schatten ausgebildet hatten, in denen sie also mit ihren Gefühlen so überfordert waren, dass sie Teile von sich abspalteten, um den gefühlt unaushaltbaren Schmerz auszuhalten, dann wirken diese weit entfernten Ereignisse seltsam unscharf. Eine Art „Emotionale Myopie“ stellt sich ein; es gelingt uns vielleicht noch, die äußeren Umstände klar zu sehen, aber der Fokus auf die inneren Umstände unserer Kindheit, ein präziser Blick auf die Akteure und die Gefühlswelt unserer Kindheit, der will sich nicht einstellen.
Die Sehhilfe dafür lautet Mitgefühl: Wenn wir 20, 30 oder 40 Jahren nach dem Ereignis im wahrsten Sinn des Wortes nach/empfinden wollen, was uns damals passiert ist, dann geht es tatsächlich nur so – durch Empfindung. Mit dem Verstand kommen wir in unsere Gefühlswelt nicht hinein, nur mit dem Gefühl. Konkret: Mit dem Mitgefühl für unser damaliges Sein. Denn wenn wir als Erwachsene auf unsere Kindheit schauen, dann kommen uns ohne Mitgefühl alle Momente der Schattenentstehung, also diese Zeiten seelischer Verzweiflung aus heutiger Sicht irgendwie unglaubwürdig vor, geradezu klein, also: fast schon läppisch. Ich soll wegen diesem bisschen Eifersucht auf meine Schwester alles Weibliche aus meinem Leben verbannt haben? Ich soll wegen der einen, na gut: vielleicht auch wegen der zwei oder drei Ohrfeigen meiner Mutter innerlich derart auseinandergefallen sein? Mich soll meine Legasthenie in der Schule insgeheim um alle Zuversicht und um allen Glauben an meinen Erfolg gebracht haben? Und Sie meinen tatsächlich, die dauernden Affären meines Vaters haben mein Verhältnis zu Männern ruiniert? Also, ich weiss nicht …
Sie brauchen für die genau Abbildung Ihrer Kindheit Mitgefühl mit sich selbst. Und ein guter Rat, um ins Mitgefühl, in die Empfindung mit sich selbst zu kommen, der lautet – Lyrik. Fangen Sie an, Gedichte zu lesen. Die großen, die mächtigen Worte sind große, mächtige Brücken in Ihre Gefühlswelt. Lesen Sie jeden Tag eines, zu Beginn laut, und so, als ob hinter jedem Wort ein Punkt stünde. Nach einer Woche lesen Sie so viele Gedichte wie Sie wollen und nach 2 Wochen lernen Sie ein Gedicht auswendig – eines, das Sie herztief berührt. Ob wir da Empfehlungen haben? Ein guter Anfang sind die Liebesgedichte von Bertold Brecht.
„Guten, sagt er. Morgen, sagt sie.“
So einfach, so very charming geht es manchmal beim streng dreinschauenden Brillenträger Brecht zu. Von Rainer-Maria-Rilke können Sie alles lesen, denn alles ist wunderbar. Und wenn Sie sich wirklich schwer tun mit den beiden und auch mit der weich-schwärmerischen Hilde Domin oder dem genau beobachtenden Theodor Storm oder dem messerschaft-witzigen Joachim Ringelnatz, dann empfehlen wir japanische Haikus. Haikus sind Dreizeiler aus reinster Resonanz, voller Anmut und – wunderbar kurz.
Adler lieben sich im Fallen,
er ist weit der Boden.
Das ist der Seele bekannt.
Und plötzlich passiert es: Es reimt sich vieles in Ihrem Leben zusammen …
Vor ungefähr 10 Jahren habe ich das Buch „Schattenjunge/Schattenmädchen“ veröffentlicht. Voller Leidenschaft und Dankbarkeit dafür, dass ich als Psychologin und Psychotherapeutin, aber auch als Mensch auf der Suche, einen Weg gefunden habe, mir selbst und meinen Klienten zu helfen.
Mit der von mir entwickelten Methodik der Schattenarbeit konnte ich einen psychotherapeutischen Heilungsprozess in Gang setzen, der inzwischen vielen Menschen eine zuvor nicht vorstellbare bessere Lebensqualität gebracht hat. Ich hatte und habe immer noch Freude daran, mit Hilfe der Schattenarbeit unserem Unbewussten mit aller psychologischen Raffinesse auf die Schliche zu kommen.
So wie die Schattenarbeit mein psychologisches Zuhause ist und war, so war und ist mein spirituelles Verständnis vom Leben mein Dach über dem Kopf. Je weiter ich meine Schatten integrieren konnte, die abgespaltenen Teile ins Bewusstsein holen und die kindlichen Fixierungen aufgeben, um so mehr verlangte es in mir nach den großen Wahrheiten meines menschlichen Daseins.
Was ist der Sinn meines Lebens, was sind meine Lebensaufgaben, meine Lebensziele, wer bin ich wirklich? Was will ich mit Begeisterung tun, wie will ich sein? Was will ich erfahren, gefühlt haben, wenn ich diese Erde wieder verlasse? Will ich etwas zurücklassen, mitnehmen, unbedingt getan und leidenschaftlich erlebt haben?
Über den psychotherapeutischen Heilungsprozess hinaus musste ich aber lernen, dass es immer wieder einen Gegenspieler gibt, der uns eine gewisse Stufe der Weiterentwicklung nicht möglich macht. Auch nach Integration der Schatten, dem Herausfinden der uns am Herzen liegenden Wünsche, wird uns auf unheilvolle Art und Weise ein Leben in Fülle und Freude verwehrt. Häufig können wir sogar den Sinn unseres Lebens erkennen, kommen aber nicht in die Erfüllung, in ein friedliches, schöpferisches und kreatives Leben. Es fühlt sich weite Strecken oder in Teilbereichen unseres Lebens, z.B. in den partnerschaftlichen Beziehungen oder in Beruf/Berufung trotzdem immer noch an, als wären Lebensumstände oder Personen „nicht richtig“. Immer wieder empfinden wir Lebensumstände als problematisch und uns selbst, unsere Partner oder Kinder als schrecklich anstrengend.
Und diesen Kräfte- und Visionsräuber, diesen Saboteur der Lebensfreude, nennen wir alle das EGO. Wer oder was ist dieses glücksverhindernde EGO eigentlich? Genau das wollte ich herausfinden. Und ich bin diesem EGO auf die Schliche gekommen. Es war meine Leidenschaft in den letzten Jahren, die EGO-Maschine zu analysieren. Wie funktioniert unser aller EGO? Auch dahinter vermutete ich eine gewisse „Psycho-Logik“ wie bei der Schattenarbeit. Es gibt eine allgemeine Gültigkeit was die Funktionsweise des EGOs betrifft. Das war mir klar. Und so habe ich begonnen, genau dies zu entschlüsseln. In richtiger Kleinstarbeit habe ich die einzelnen „Player“ dieses alles dominierenden EGOs entschlüsselt, ihre Wirkungsweise aufgedeckt, überprüft, immer wieder durchleuchtet. Es sind viele Variable zu berücksichtigen, aber diese kann man alle, wenn man sie versteht und zu nutzen weiß, umwandeln in Lebenskraft und Lebensfreude. Denn das EGO ist auch aus einer Energie, die, freigesetzt, sehr viel Wunderbares in unserem jetzigen Leben bewirken kann. Wir können einen Saboteur der Lebensfreude umfunktionieren in einen Akteur der Liebe und des Gelingens dessen, „was wir sind“ und „wer von ganzem Herzen wir sein wollen“.
Genau darum geht es in meinen Retreats sowie den SonnTagen , die beide schon so viele Anhänger und Anhängerinnen gefunden haben. Und genau darum wird es auch in meinem Podcast „Lichtarbeit“ gehen, der demnächst auf dieser Website zu finden sein wird:
All die Weisheiten und Möglichkeiten, die mir zugängig sind, so zu erklären und praktizierbar zu machen, dass sich unser Leiden verringert und der innere Frieden und die Ruhe, die wir alle so gerne in uns spüren würden, vermehrt.
Bis hin zu tief empfundener Dankbarkeit und Liebe für uns, unsere Lebenspartner und unsere Kinder, und für das Leben, das wir hier genießen dürfen.
©Stefanie Körber
Auch im vergangenen Jahr hat das Land ein positive Entwicklung gemacht, wie die meisten der sog. Wohlfahrtsindikatoren anzeigen: Der Beziehungsindex, mit dem die Bundesregierung jährlich die Zufriedenheit von Männern und Frauen in Partnerschaft und Familie erfasst, ist auch im vergangenen Jahr wieder leicht angestiegen und hat mit 188 Punkten den bisher höchsten Stand seit seiner Einführung 2050 erreicht.
Das Ministerium für Ganzheitlichen Wohlstand (früher Wirtschaftsministerium) wies beim Festakt zu seinem 25-jährigen Bestehen darauf hin, dass die Wahrnehmung von „emotionaler Stabilität“ und „Beziehungsfähigkeit“ als gesellschaftliche Ressourcen das Land von Grund auf verändert hat – und zwar zum Positiven:
Der Fall der Scheidungsrate auf den historischen Tiefstand von 8% ist dafür nur ein Beispiel, auch Kinder und Jugendliche finden für ihre persönliche und gesellschaftliche Entwicklung immer bessere Bedingungen vor – laut dem alljährlich veröffentlichten Kindeswohlindex sinkt sowohl die Zahl der Gewalt- und Übergriffsdelikte in Familien, als auch die Zahl der Schulabbrecher sowie die Zahl der Gewalt- und Drogendelikte bei Minderjährigen seit 25 Jahren kontinuierlich.
Experten führen das vor allem auf die Einführung des Faches „Persönliche Entwicklung“ in den Schulen sowie die Auflösung der kirchlichen Ehe- und Familienberatungen zurück, die durch ein umfassendes Beratungs- und Mediationssystem ersetzt wurde (sog. „Neue Josephinische Reform“ – so nannte der Publizist Karl Zweig in einem vielbeachteten Essay 2048 das Vorhaben der damaligen Bundeskanzlerin Josephine Lang; es war natürlich eine Anspielung auf ihren Vornamen, aber auch auf die Reformen von Maria Theresias ältestem Sohn Joseph II., der Österreich im 18. Jahrhundert mit einer Welle von humanistischen Reformen in die Moderne katapultierte).
Seit 2050 steht das umfangreiche Therapie- und Coachingprogramm allen Bürgerinnen und Bürgern des Landes offen – und zwar gratis. Das Modell einer umfassenden therapeutischen Beratung und Betreuung ist nach anfänglichem Zögern inzwischen in fast allen Ländern der EU Standard, weil es sich als eines der effizientesten Kostensenkungsmodelle im Gesundheitswesen herausgestellt hat: Die Folgekosten von psychosomatischen Erkrankungen wie Burnout, Alkoholismus, Ernährungsstörungen inklusive Übergewicht etc. übersteigen die Kosten für die Vermeidung dieser Gesundheitsstörungen um ein Vielfaches.
„Das ganzheitliche Gesundheitsmodell ist also vor allem ein Modell von Effizienz und Good Governance.“, zitierte der Pressesprecher des Ministeriums die ehemalige Bundeskanzlerin Lang. „Es ist ein Sparprogramm, das eben nicht an den Menschen spart.“
Als Mittelpunkt des Programms stellte sich über die Jahre W.I.R. heraus, das Unterstützungsprogramm für Paare und Eltern. Aus einem breiten Beratungs- und Fortbildungsprogramm können bis zu 10 Veranstaltungen pro Jahr ausgewählt werden; insbesondere das Online-Angebot mit seinen Beratungschats, Webinaren und Workshops findet lebhaften Anklang. Die W.I.R.-App gilt als größter digitaler Erfolg, den je ein Ministerium verbuchen konnte – sie wurde seit ihrer Veröffentlichung 2070 über 1 Million Mal heruntergeladen.
Ein leidenschaftlicher User ist übrigens bis heute Karl Zweig. Sein berühmtestes Zitat bildete auch das Motto des Festakts im Ministerium für Ganzheitlichen Wohlstand:
„Eine Gesellschaft lebt nicht von Technologiesprüngen. Sie lebt von Bewusstseinssprüngen.“
(Fortsetzung folgt … ist natürlich immer ein guter Abschluss. Vielleicht ist eine kleine Abwandlung aber viel wichtiger: Umsetzung folgt …)
Wir schreiben das 22. Jahrhundert. Genau gesagt das Jahr 2121. Es ist jetzt 100 Jahre her, dass die sog. Private Revolution die Welt veränderte – die Idee, dass dieser Planet nicht in Balance sein kann, wenn die einzelnen Personen nicht in Balance mit sich sind.
Die Welt, so der Grundgedanke, ist immer nur so friedlich, freundlich, interessant, gelassen, kooperativ und stabil, wie es die Einzelnen sind. Dieser Weg mag anstrengend und lang sein, das stimmt, aber es ist ein Weg nach oben und jede Anstrengung wert.
Dieser Gedanke griff erst langsam, dann rasend schnell um sich, es dauerte kaum eine Generation bis er zum Paradigma der Zeit wurde. Das Revolutionsmotto lieferte damals übrigens ausgerechnet eine Mode-Designerin, immerhin eine revolutionäre, nämlich Vivienne Westwood. Ihr Schlussatz in einem ansonsten bedeutungslosen Interview aus dem Jahre 2018 ging um die Welt: „Weltverbesserung kommt durch Selbstverbesserung.„
Bis heute kann niemand genau sagen, ob und inwiefern die Erste Große Covid-Pandemie 20/21 (es folgten ja noch zwei weitere) zur Privaten Revolution beitrug, womöglich sogar den Startschuss lieferte. Unbestritten ist jedoch, dass die zunächst nicht endenwollende Perlenschnur der sogenannten „Lockdowns“ klar machte, wie wenig die Lebenssysteme des 21. Jahrhunderts noch hielten, was die Menschen sich vom Leben versprachen.
Die Klimakrise war damals nur das offensichtlichste Beispiel für diese Entwicklung, aber bei weitem nicht das einzige.
Die himmelschreiende Ungleichheit von Besitz, eine bis zur Schmerzgrenze geschundene Natur, geschwürhafte, de facto unregierbare Städte und eine schier unaufhaltsam um sich greifenden Hässlichkeit und Wertlosigkeit im Verbund mit einer zunehmenden Unplanbarkeit aller Lebensverhältnisse, all das hob wie die unsichtbare Hand eines Riesen die Welt langsam, fast in Zeitlupe, aus den Angeln. Das politische Personal? War seit den sog. Nullerjahren (sic!) bemüht, aber nirgendwo in der Lage, daran etwas zu ändern.
Die Probleme waren offensichtlich zu fundamental, die Lösungen mussten es also auch sein. Und so rückte plötzlich die persönliche Entwicklung in den Fokus von allen und allem. Beziehungen und Partnerschaften wurden Schlüsselthemen, das Sein tatsächlich wichtiger als das Haben.
Und siehe da: Es funktionierte…
(Fortsetzung folgt)
Wohl nur sehr wenige Jahre sind mit ähnlich vielen Vorschusslorbeeren gestartet wie 2021. Das liegt natürlich daran, dass The Donald, wie Obama sagen würde, nun ja: Geschichte ist, aber vor allem liegt es wohl an der Hoffnung, dass der Alptraum Corona sich dem Ende zuneigen könnte. Auf jeden Fall, so der allgemeine Tenor, wird 2021 besser werden als 2020. Weil schließlich: also schlechter kann es wirklich nicht mehr werden.
Das wird sich in Wirklichkeit erst noch weisen: Das Leben hat ja sehr eigene Vorstellungen davon, wie die Dinge vonstatten gehen. Es handelt nach einem Drehbuch, das uns oft seltsam vorkommt und nicht selten anstrengend und manchmal auch sehr ungerecht. Und da möchten wir für 2021 gerne für einen genaueren Blick plädieren, für eine Schule des richtigen Sehens:
Das Leben hat kein Interesse an unserem Leid, an unserem Scheitern oder an unserem Kleinsein. Wenn wir aufmerksam sind und unseren Blick auf den wirklich wichtigen Dingen haben, die uns guttun und uns wachsen lassen, dann erweisen sich die vermeintlich schlechten Zeiten und schwierigen Umstände immer als wertvoll und hilfreich. Dafür sollten wir einen Blick haben. Wir können diesen Blick schulen und ausbilden. Und einer der wichtigsten „Ausbildungsräume“ für den Blick auf das Wesentliche sind unsere Probleme, ist unser Aufprall auf dem Boden der Tatsachen.
Denn das Leben schickt uns Probleme nicht, um uns Probleme zu machen, sondern, um uns besser sehen zu lassen – nämlich das, was wirklich wichtig ist, was unsere Aufmerksamkeit verdient und ggf. eine Justierung und Korrektur unserer Lebenweise erfordert.
Die Wiener Philharmoniker gingen Mitte des vergangenen Jahres auf eine Japan-Tournee. Die Reise war höchst umstritten: Es schien angesichts der weltweiten Corona-Einschränkungen eine schlechte Idee, um die halbe Welt zu reisen, außerdem waren die Sicherheitsanforderungen enorm und erlaubten nur ein Konzert; alle Mitglieder des Orchesters mussten 14 Tage nach der Einreise in Quarantäne, sie durften das Hotel nicht verlassen und wurden täglich auf Covid-19 getestet. Aber die Wiener Philharmoniker flogen trotzdem: Als Zeichen der Hoffnung und der Nähe, die Musik schaffen kann.
Sie spielten dementsprechend nur vor einem spärlichen, handverlesenen Publikum, das ebenso strengen Sicherheitsregeln unterworfen war: 14 Tage Quarantäne vor dem Konzert, Sitzabstand und das unbedingte Verbot, zu applaudieren oder gar „Bravo“ zu rufen.
Die Wiener Philharmoniker spielten dieses Konzert hingebungsvoll wie selten in ihrer Geschichte und als sie fertig waren, war es still. Wer je musiziert hat, weiss, wie entsetzlich diese Stille gewesen sein muss. Und dann passierte es: Alle Japaner standen plötzlich auf und zogen aus ihren Taschen Zettel auf denen groß nur ein Wort stand – „Bravo“.
Sehen Sie? Wir wünschen ein unübersehbar gutes Jahr 2021.
Sophia Coppola ist berühmt geworden durch den Film „Lost in Translation“: Der grandiose Bill Murray spielt dort einen alternden amerikanischen Filmstar (also quasi sich selbst), der in Tokio Werbeaufnahmen für Santori-Whiskey dreht und mit Hilfe von selbigem sowie Scarlett Johansson dem Sinn des Lebens und der Liebe ein Stück näher kommt.
Wer den Film noch nicht mindestens 10 Mail gesehen hat, hole das bitte schleunigst nach, alternativ kann man allerdings auch Frau Coppolas neuestes Kunststück anschauen: „On the Rocks“. Natürlich wieder mit Bill Murray als Darsteller von Bill Murray, außerdem spielt der Tisch mit, an dem Humphrey Bogart Lauren Bacall seinen Heiratsantrag gemacht hat und es gibt einen Soundtrack, der so dermaßen gut ist, dass er mit Chet Baker „I fall in love too easily“ anfangen und sich dann trotzdem noch steigern kann.
Was den Film so herausragend macht, ist allerdings etwas anderes – es ist sein Thema: Eine verheiratete Frau mit zwei Töchtern (geradezu stehlenswert süß: die Kleine! Mit Lama!) geht gerade in Schlabberhose, Kinderbetreuung und Schreibblockade unter und verdächtigt ihren supererfolgreichen dauerunterwegsseienden Mann langsam aber sicher, eine Affäre zu haben.
Als sie davon ihrem Vater erzählt, springt ihr dieser ohne zu Zögern zur Seite – als scheinbar wohlwollender, beschützender Silberrücken, der ihr klarmacht, dass jeder Kerl leider ein fremdgehendes Miststück sei, er wisse, wovon er da rede und er schlage als ihr Vater daher die sofortige Observierung des Betrügers vor; diese werde zweifellos ergeben, dass auch ihr Mann ein Fremdgeher sei, das sei nun mal der Lauf der Welt, aber dann herrsche wenigstens Klarheit.
Diese Zeilen sind keine Filmkritik, daher wird auch nicht verraten, wie es weiter- und ausgeht – aber wir verraten gerne , was der Film eigentlich erzählt. Nämlich dass Frauen heute vielfach ein Glück haben, das sie nicht leicht fassen können: Sie haben kluge, herzliche Männer an ihrer Seite, die etwas von Gefühlen, von Vaterschaft, von Integrität und vor allem von Liebe verstehen (und soviel sei verraten, auch von kleinen roten Schachteln aus Paris …). Die Geschichte der eigenen betrügerischen und narzisstischen alten Väter ist nicht die Geschichte dieser neuen Männer – und schon gar nicht deren Wesen.
Warum frau das kaum glauben kann, warum Frauen sich mit diesem Unglauben das Leben und das Lieben kaputt machen und warum es besser ist, herzliche Ansprüche anstatt herzlose Vorwürfe an den Mann neben sich zu richten, das gibt es jetzt inklusive einer erfrischenden Lektion über langbeinige, gutaussehende Kolleginnnen im Kino und bei Apple TV. Oder anders herum:
Die Zeiten ändern sich. Ja, die Männer auch.
Herrlich!
Der französische Philosoph Jean Paul hat wie alle Philosophen sehr viel über sehr viel nachgedacht. Am Ende seines Lebens fasste er seine Einsichten in einem Satz zusammen: „Alles Unglück in der Welt kommt nur daher, dass die Leute nicht in ihrem Zimmer bleiben können.“
Wenn Monsieur Paul Recht hat, dann stehen uns womöglich Wochen und Monate des Glücks bevor. Denn „Corona Virus Disease 19″, wie das Virus mit offiziellem und vollständigem Namen heisst, das die Welt seit Monaten in Atem hält, sorgt dafür, dass die bevorstehenden Großen Ferien sehr klein ausfallen werden: Es gibt kaum Länder, in die man unbesorgt reisen könnte; die Zug- und Flugverbindungen verdienen ihren Namen kaum und die Pläne zur Ansteckungsvorbeugung erinnern eher an Seuchenstationen im Freien als an Urlaub (Plexiglasabsperrungen am Strand! Einzeln ans Buffet!)
Es ist das Geschenk des Jahrhunderts. Ein Himmel ohne Kondensstreifen, Städte ohne Busse, Strände ohne Meuten. Natürlich atmet die Umwelt auf, aber alles Authentische und Achtsame noch viel mehr. Die Restaurants, Cafés und Bars haben wieder Platz, die Sehenswürdigkeiten lassen wieder ahnen, warum sie sehenswürdig sind. Der Tourismus ist längst selbst eine Seuche geworden, die mit Reisen gar nichts mehr zu tun hat und mit Neugier auch nicht und mit Weltenschau ganz sicher am allerwenigsten – Tourismus ist heute nichts anderes als die Bedrängung des Stillen durch das Laute, des Feinen durch das Grobe, des Schönen durch das Hässliche.
Am Ende ist Tourismus die Entwertung der Welt durch die Suche nach etwas Wertvollem, das wir in uns und um uns herum nicht mehr finden.
Genau da sollten wir in diesem Sommer anfangen: Sorgen Sie dafür, dass Ihr Leben lebenswert ist. Entfernen Sie das Unerträgliche und die Unerträglichen sowieso. Haben Sie keine Notwendigkeit zu fliehen oder zu flüchten. Wenn Sie sich etwas anschauen möchten, dann schauen Sie immer mit allen Sinnen und niemals mit Ihrem Handy. Reisen Sie wertig und wenn nötig teuer und dafür dann eben nur alle 3 Jahre. Suchen Sie dabei das Neue und Ungewohnte – und vor allem sich selbst.
Was wir da empfehlen? Lassen Sie uns nachdenken …. machen Sie eine Radtour um den Bodensee: Nehmen Sie den Nachtzug nach Bregenz, übernachten Sie in Schloss Wartensee bei Rohrschach und essen Sie Fisch am Hafen von Lindau. Und vor allem: Gehen Sie unterhalb des großen Dahlienfelds in Mainau schwimmen.
Das soll schon Rilke gemacht haben. Und wir natürlich auch…
Die Frage, ob große Unterschiede zwischen den Partnern gut für eine Beziehung sind oder schlecht, ist wahrscheinlich so alt wie die Liebe selbst. So wie es aussieht, wird es darauf erst in sehr, sehr ferner Zukunft eine Antwort geben – und das ist ein bisschen weit entfernt für Paare, die gerade in einem Streit stecken über ihre unterschiedliche Vorstellungen von Sauberkeit, den unterschiedlichen Umgang mit Geld oder die Frage, wann nach einer Reise die Koffer auszupacken sind … („Oh, natürlich sofort!“ vs. „Bitte kein Stress, das machen wir in Ruhe nächstes Wochenende…“).
Der Rat, diese Dinge des täglichen Lebens nicht so wichtig zu nehmen, geht am entscheidenen Punkt vorbei: sie sind so wichtig.
Es ist schwer vorstellbar, wie sich jemand in einer Beziehung wohlfühlt, wenn er sich nicht im Schlafzimmer wohlfühlen kann. Und wenn der/die Eine nervös wird, wenn er oder sie nicht 30 Minuten vor der Abfahrt auf dem Bahnhof steht, dann führt die Einschätzung der/des Anderen, dass 5 Minuten doch allemal ausreichen, nur ziemlich zügig zum nächsten Streit.
Wenn es beide betrifft, müssen sich auch beide wohlfühlen können. Unterschiede zwischen den Partnern sind genau genommen nur Aufforderungen zur Annäherung, Trainingsplätze der Gemeinsamkeit. Und da zeigt sich, dass die beste Methodik für ein Paar immer lautet, die Dinge nach oben fallen zu lassen: Einigen Sie sich stets auf das höhere Niveau, passen Sie sich nach oben an.
Werden Sie im Zweifel sauberer, pünktlicher, genauer, sorgfältiger, ruhiger, gesünder, fürsorglicher, umsichtiger, verlässlicher, aufmerksamer, großzügiger, umweltfreundlicher, sparsamer, aktiver.
Seien Sie 35 Minuten vor Abfahrt des Zuges am Bahnof.
Das liebt die Liebe.
Der englische Schauspieler Benjamin Cumberbatch ist für seine Charakterrollen bekannt: Die Darstellung des Physikers Stephen Hawking im Film Die Suche nach dem Anfang der Zeit machte ihn 2004 über Nacht berühmt, mit Sherlock Holmes hat er Hollywood erobert und seine Shakespeare-Darstellungen gelten im an Shakespeare-Darstellungen nicht gerade armen London als Stadtgespräch. Cumberbatch hat aber auch Charakter, wie es scheint: Der Schauspieler nimmt keine Rollen mehr für Produktionen an, in denen Frauen nicht das gleiche Honorar bekommen wie Männer.
Full Stop.
Diese Haltung ist neu – dass Männer die Anliegen der Frauen nicht nur mit Kopf und Herz unterstützen, sondern sie aktiv zu ihrer eigenen Sache machen. Und wenn man diesen Gedankenfaden einmal unverknotet durch die Finger laufen lässt, dann wird auch klar, was der nächste Schritt im Verhältnis der Geschlechter sein wird:
Die Männer wehren sich gegen die Männer.
Wir sind sehr dafür. Es wäre für das Zusammenleben von Männern und Frauen, für das Familienleben, die Schulen und die Unternehmenskulturen ein Quantensprung: Wenn die Männer, die mit Frauen auf Augen- und Herzhöhe leben wollen, all die unbeweglichen, rückständigen, despotischen, selbstgefälligen und hierarchiebdürftigen Männer, die das sabotieren, aus dem Cockpit kippen.
Ganz egal ob Vater, Bruder, Nachbar, Kollege, Chef, Lehrer, Beamter, Politiker oder einfach der unbekannte Idiot neben einem – von nun an wehren sich Männer bitte gegen die schlampigen Bemerkungen, die sexistischen Angewohnheiten oder die aus jeder Zeit gefallenen Ansichten von anderen Männern. Zoten und Herabwürdigungen, Denkfaulheit und Veränderungsresistenz möge von nun an so genannt werden, klar und deutlich. Und diese Männer mögen bei der Auseinandersetzung Mann gegen Mann bitte kleinlich und penibel sein: Gegen Kleinmut kommt man nicht mit Großzügigkeit an, sondern mit Ausnahmslosigkeit.
Wir können nur ahnen, wie unendlich gut das den Frauen täte und wieviel Grant und Verbissenheit sich damit in Luft auflösen könnten. Oder wie gut das Aufstehen der Heutemänner vor allem auch den Kindern der Gesternmänner täte – sie hätten endlich einen Gegenentwurf für das eigene Leben und einen Beweis, dass Männer und Frauen nebeneinander, nicht untereinander stehen.
Ach ja, und den Kampf Mann-gegen-Mann bitte unbedingt auf die scharfe, aber lässige Art führen, die gute Männer und ihren Wortwitz in der Regel auszeichnet. Cumberbatch hat es in einer Drehpause vorgemacht:
Mitglied der Crew: „I do know a really nice joke about women.“
B. Cumberbatch: „There is no such thing … „
Es spricht viel für die These, dass es keinesfalls mehr schlechte Nachrichten als gute Nachrichten gibt, allerdings scheinen sich die guten Nachrichten gerne zu verstecken. Warum sie das tun? Es ist zu vermuten, dass sie sich wie wir alle heftig vor Boris Johnsons Frisur fürchten, aber Forscher eines internationalen Linguistikprojekts haben nun herausgefunden, dass sie wohl schlichtweg gekränkt sind – denn wir schenken guten Nachrichten weniger Aufmerksamkeit als schlechten Nachrichten. Und als ob das nicht schon Kränkungsmaterial genug wäre bzweifeln wir auch die Richtigkeit von good news deutlich stärker als die von bad news.
Das erklärt vielleicht auch das Lieblingsversteck von guten Nachrichten – die Statistik. Zwischen Zahlen eingeklemmt finden sich auffallend viele gute Nachrichten, sie scheinen sich dort wohler zu fühlen als in der freien Kommunikationswildbahn. Dort kann man sich ja niemals sicher sein, nicht plötzlich Johnson, Trump, der AFD oder einem Kurzzeitkanzler gegenüberzustehen. Da blüht der guten Nachricht dann das kreischende „FAKE NEWS!“, mindestens aber die gediegen-undemokratische MESSAGE CONTROL, beides tut weh. In der Statistik dagegen herrscht Ruhe und wird man entdeckt, kann man dort quasi automatisch den Wahrheitsbeweis mitliefern. Beispielsweise bei der stillen, fast unbemerkten und geradezu rasanten Revolution des Vaterbildes.
3 von 4 Männern, so eine aktuelle Studie, finden es normal, nachts aufzustehen, das Baby zu wickeln und in Vaterkarenz zu gehen. Diese Vaterkarenz nehmen auch immer mehr Männer in Anspruch, ihr Anteil hat sich in den letzten 10 Jahren verdoppelt; und Väter, die einmal in Vaterkarenz waren, lernen ihre „Lektion der Freude“ – sie übernehmen auch danach einen größeren Anteil an der Familienarbeit.
Der Hauptgrund, keine Vaterkarenz zu nehmen, ist übrigens rein finanzieller Natur: Über 50% der Väter nennen die finanziellen Einbußen als unüberwindbares Hemmnis. Wenn also Vater Staat endlich so gut wäre wie die jungen Väter, hätte sich eines der zentralen Themen der Gleichbrechtigungsgesellschaft wohl schon gelöst, nämlich die faire Teilung der Kinderlast.
Die üblichen Verdächtigen fallen dagegen immer weniger ins Gewicht: Sorge vor beruflichen Konsequenzen haben kaum mehr als 10% der Väter, die Sorge vor negativen Reaktionen von Vorgesetzten bzw. Kollegen liegt sogar noch darunter. Himmel, das ist eigentlich eine gute Nachricht nach der anderen!
Was allerdings gute Nachrichten im Zusammenhang mit Boris Johnson angeht … da suchen wir noch.
Zur Zeit findet in Frankreich die Fußball-Weltmeisterschaft der Frauen statt. Es wird guter Fußball gespielt, manchmal auch schlechter, wie das bei Weltmeisterschaften eben so ist. Und obwohl der Titel noch gar nicht ausgespielt ist (so wie es aussieht, werden wohl die US-Frauen Weltmeister, verhindern könnten das am ehesten die Französinnen), steht der Sieger schon fest – es ist das Verhältnis zwischen den Geschlechtern.
Es gibt bei dieser Frauen-WM einen angenehmen Focus auf den Sport und die Sportlerinnen. Die Spiele der brasilianische Fußballnationalmannschaft erreichen Einschaltquoten von über 30%, niemand fordert mehr Fraudeckung statt Manndeckung und vollkommen selbstverständlich schüttelt man den Kopf über jene Zeitung, die nach dem ersten Spiel der Deutschen „Hässlicher Auftaktsieg durch unsere Hübscheste!“ auf die Titelseite schrieb.
Ganz selbstverständlich wird auch über die Diskriminierungsklage der US-Spielerinnen gegen den eigenen Verband berichtet, die für den Titel weniger Prämien als ihre männlichen Kollegen bekommen sollten. Was auf den ersten Blick wie müdes Equal-Pay-Jammern aussieht, ist in Wirklichkeit eine Erfolgsgeschichte der Normalisierung – der Frauenfussball ist in den USA schlichtweg größer, beliebter und profitabler als der Männerfußball und ist auf eine Genderdiskussion gar nicht mehr angewiesen.
Die Idee, dass Frauen sich gegen Männer am besten wehren, wenn sie ihr Spiel härter spielen, ist eine Sackgasse. Wenn das Spiel MÄNNERGEGENFRAUEN bzw. FRAUENGEGENMÄNNER gespielt wird, gehen auf die eine oder die andere Art immer zwei Verlierer vom Platz, aber niemals ein Sieger. Und diese WM gibt einen der raren Ausblicke darauf, wie das Verhältnis der Geschlechter nach #metoo weitergehen könnte.
Stimmt, nicht mit dem Kaffeeservice, das die Deutschen Damen nach dem Gewinn ihrer ersten Europameisterschaft 1989 bekommen haben. Aber auch ganz sicher nicht mit Fraudeckung.
Bitte anschauen.
Es ist einige Zeit vergangen seit dem letzten Blog, das stimmt. Man könnte sagen, dieser Blog hat auf sich warten lassen, und wenn wir etwas besser lügen könnten als wir es können, dann würden wir jetzt schreiben, dass genau das auch unsere Absicht war – denn dieser Blog beschäftigt sich mit dem Thema Warten.
Es ist nicht sehr populär, das Warten. Niemand wartet gern und allgemein wird Wartezeit eindeutig als gestohlene Zeit gesehen, auf jeden Fall als vergeudete. Ganz selbstverständlich rasen wir Bahnsteige entlang und Straßenbahnen hinterher, weil wir nicht warten wollen. Auf einer Warteliste zu stehen ist bei genauer Betrachtung eine besonders üble Form der Ablehnung sowie des Scheiterns und die Warteschlange bringt mit lockerer Hand zwei biblische Plagen in einem Wort unter. Da ist das Weltgesetz der Warteschlange übrigens noch gar nicht berücksichtigt, demzufolge sich die vermeintlich kürzeste Warteschlange bzw. Staureihe verlässlich als die längste herausstellt, sobald wir drinstehen.
Der Fotograf Dieter Leistner fotografiert seit 40 Jahren Menschen an Haltestellen. Seine Bilder zeigen in ihrer tiefen Ruhe interessanterweise vor allem eins – Unruhe. Man sieht eindeutig unruhige Menschen, die sich sichtlich nicht wohlfühlen, so wie sie da stehen, sitzen, schauen; wie sie eben: warten. Diese Bilder des Wartens zeigen auch, woher ihre Unruhe kommt und sie bilden damit den Grund für den schlechten Ruf des Wartens ab – wenn wir warten, sind wir mit uns allein. Und zwar plötzlich, ohne Vorwarnung und vollkommen unvorhergesehenermaßen.
Genau das ist die Schönheit des Wartens.
Warten ist Zeit, mit der wir nicht gerechnet haben, die auch nichts von uns verlangt und in der wir absolut nichts tun müssen. Es ist freie und verwendungsoffene Zeit. Für diese plötzlich auftauchenden Minuten und Stunden oder Tage ist keine Tätigkeit vorgesehen, wir könnnen tun und lassen, was wir wollen, sogar – nichts. Wir können die Augen schließen, den Blick nach oben lenken, unserem Atem zuhören, die Menschen um uns ansehen und versuchen, gar keinen Gedanken zu haben oder einen unerhörten, strahlenden, neuen. Wir können auch … Ruhe geben. Uns und den anderen.
Gerade, weil wir dort nichts zu tun haben, kann das Warten etwas für uns tun – es bringt uns in Kontakt mit dem Ungeplanten und Überraschenden; mit Momenten und Menschen, die nicht geplant waren; und mit Gedanken und Gefühlen, die in unserem Leben selten vorkommen.
Das Warten ist damit einem Geschenk deutlich näher als einem Diebstahl. Wir sollten also mehr warten statt weniger. Und auf keinen Fall sollten wir Wartezeit zurückweisen. Die Sprache liefert dafür übrigens wie immer einen guten Hinweis: Die zweite Bedeutung von „warten“ lautet gemäß Duden „pflegen, instand halten“. Probieren Sie es aus.
Und dann warten Sie ab, was passiert…
„Keine Ahnung. Und Du?“
„Keine Ahnung.“
Dieser kurze Dialog fand neulich in der U-Bahn irgendwo hinter uns statt. Zwei Teenager waren eingestiegen und hatten sich über ihre offensichtlich gerade stattfindenden Maturaprüfungen unterhalten – wie schwer diese nicht seien, wie jenseitig die Lehrer, diese Dinge eben. Und dann fragte der eine den anderen, was er denn nach der Schule eigentlich machen würde. Also jobmäßig, quasi … beruflich.
„Keine Ahnung. Und Du?“
„Keine Ahnung.“
Es klang bedrückt. Ahnungslosigkeit hat im Berufsleben einen ausgesprochen schlechten Ruf, er dürfte nur knapp oberhalb von dem eines Verkäufers alkoholfreien Biers in einem irischen Pub liegen. Im Berufsleben, so die gängige Meinung, muss man unbedingt wissen, was man will, je früher desto besser. Und so liegen ganze Maturajahrgänge mitsamt ihren Eltern schlaflos im Bett, weil nach dem Schulabschluss im Juni schrecklicherweise auch im Juli noch nicht klar ist, welcher Berufsweg denn jetzt einzuschlagen ist.
Wir beraten jeden Tag Menschen dabei, ins Berufsleben zu kommen bzw. ihr Berufsleben weiterzuentwickeln. Und wir haben dabei die Erfahrung gemacht, dass die vermeintliche Ahnungslosigkeit fast immer etwas sehr anderes ist – ein Ahnungsgewinn. Nämlich davon, dass eine schnelle, übliche und erstbeste Antwort nicht weiterhilft. Es scheint so etwas zu geben wie das BERUFLICHE WESEN, das wir alle in uns haben und an dem wir nicht beliebig vorbeileben können, wenn wir wirklich Erfolg haben wollen, also einen Erfolg, der über das Gehalt hinausgeht und nicht in Burnout oder völliger Sinnentleerung endet.
In der Schattenarbeit bringen wir deshalb Licht in die Frage, was denn dieses BERUFLICHE WESEN sein könnte: Was sind Ihre wirklichen Talente und Begabungen, Ihre beruflichen Herzensanliegen? Haben diese sich verändert bzw. sind diese womöglich gerade dabei, sich zu verändern? Und was sind bzw. woher kommen eigentlich die Ängste und Vorstellungen, Handlungsmuster und Annahmen, die Ihnen dabei immer wieder in die Quere kommen und Sie von Ihrem Erfolg abhalten?
To have no idea, wie es im Englischen heißt, ist ein guter Anfang, um die richtigen Antworten zu finden. Denn wir sind in diesem Modus bereit für Neues, aber nicht bereit für Falsches. Und wie es scheint, liebt das Leben diesen Zustand – denn es kommt den Fragenden sehr verlässlich zu Hilfe. Das sieht dann beispielsweise so aus: Dann kommt plötzlich ein Jobangebot, das perfekt passt. Oder die erfolgreiche nationale Firma wird überraschenderweise gekauft und es ergeben sich die lang ersehnten internationalen Arbeitsmöglichkeiten. Oder man stöbert im Cafe (in dem man sonst nie sitzt) in der Zeitung (die man sonst nie liest) durch den Stellenteil (was man sonst nie tut) und findet tatsächlich eine Position, die alles hat, was man gerne hätte.
Manchmal ist diese Entwicklungshilfe aber auch nicht ganz leicht zu entschlüsseln, weil sie als negatives Erlebnis auftritt. Ein Beispiel: Wenn Sie mit Ihrer freiberuflichen Tätigkeit plötzlich nicht mehr genug zu verdienen ist, dann ist das womöglich vor allem die Aufforderung, endlich über die eigene berufliche Entwicklung nachzudenken. Oder: Es kommt ein neuer Chef/eine neue Chefin, mit der keine sinnvolle Zusammenarbeit möglich scheint – es könnte der Anstoß sein, einmal über Veränderung nachzudenken, vielleicht auch darüber, selbst Chef/Chefin zu werden oder warum das jetzt schon die dritte Position hintereinander ist, wo Sie Probleme mit Ihren Vorgesetzten haben. Und vielleicht hören Sie sich dann ja sagen: ”Keine Ahnung“.
Ein guter Anfang.
© Institut für Schattenarbeit 2018
Zur Zeit läuft „Ocean 8“ im Kino. Der Film ist unterhaltsam, aber in Summe doch einige Seemeilen von der berühmten Ocean-Trilogie entfernt, in der George Clooney mit Brad Pitt sowie einer Gruppe von Meisterdieben das größte Casino in Las Vegas ausraubt und dabei so nebenher auch noch dem Begriff Coolness neues Leben einhaucht.
Man muss „Ocean 8“ also nicht unbedingt gesehen haben. Es gibt allerdings einen Blickwinkel, der „Ocean 8“ hochinteressant macht – es ist der Blick auf die Tatsache, dass sämtliche Hauptrollen von Frauen besetzt sind und sich die Handlung eisern auf echte oder vermeintliche Frauenthemen konzentriert, nämlich auf Sandra Bullock, die Eröffnungsgala in der MET und Cartier. In der Sprache der Hollywood-Studios ist „Ocean 8“ all female sowie gender-swapped und dieses Konzept wird einstimmig als großer Fortschritt bejubelt. Endlich. Endlich bekommen Frauen auch in Hollywood das, was Ihnen zusteht – Hauptrollen, gleiche Gagen, Anerkennung, Raum für ihr Können.
Ja, das sieht nach einer Lösung aus. Aber es ist keine.
Männer und Frauen sind Seite an Seite gedacht und alles, was auf dieser Welt von Wert und Bedeutung ist, entsteht durch das Zusammenwirken der beiden. Das Wesen von Mann und Frau ist die Verbindung, die Auseinander-Setzung ist es nicht und der Alleingang ist es noch viel weniger. Es sind Zweifel angebracht, ob wir ein gleichberechtigtes und gleichwertiges Verhältnis zwischen den Geschlechtern bekommen, wenn wir Die Herrin der Ringe drehen oder Ben Hura ins Kino bringen, ein 5-Stunden-Epos, an dessen fulminantem Ende das erste eBike-Rennen der Filmgeschichte die Zuschauer in seinen Bann zieht.
Es wird ein Leben nach #metoo geben, und wir sollten anfangen, uns darüber Gedanken zu machen. Wenn es ein Leben Seite an Seite sein soll, dann haben die nächsten Schritte Augen- und Herzhöhe zwischen Männern und Frauen zum Ziel. Es geht darum, die „MännerundFrauenbewegung“ ins Leben zu rufen, die immer beide Seiten mitdenkt und mitmeint; die statt Ideen nur für Männer oder Frauen auf Entwicklungen für beide setzt. Und damit das gemeinsame Leben und Lieben ermöglicht, das wir uns alle herztief wünschen.
„Ocean 8“ ist ein Lehrbeispiel dafür, wie diese MännerundFrauenbewegung konkret aussehen könnte: George und Sandra dirigieren dann zusammen eine Crew von Meisterdieben, die ebenfalls sowohl aus Männern als auch aus Frauen besteht. Natürlich streiten sie sich den ganzen Film darüber, wer das Sagen hat, natürlich tun sie so, als ob sie sich nicht leiden können und natürlich werden sie dann am Ende das Traumpaar unter den Traumpaaren.
Und wenn wir vom Institut bei den Dreharbeiten etwas zu sagen hätten, dann würden die beiden übrigens weder ein Casino noch die MET ins Visier nehmen, sondern das Obere Belvedere in Wien. Sie würden dort unbemerkt einbrechen. Und ein Bild von Klimt stehlen. Der Kuss. Was denn sonst…
© Institut für Schattenarbeit 2018