30 / 10 / 22
LEUCHTSPUR. Der Blog von Stefanie Körber und Stefan Pott

Die geschenkte Stunde.

Eine der häufigsten Fragen im Rahmen der Schattenarbeit lautet: „Verstehe ich das richtig: Ich kann Eigenschaften, Gedanken etc., die ich als Kind verloren habe, jetzt als Erwachsener wieder zurückgewinnen?“

„Ja.”

„Ich kann also ebenso, wie ich Eigenschaften und Fähigkeiten von mir verloren habe und die mir jetzt so fehlen, wieder integrieren?“

„Genau.

Heute ist ein guter Tag, um dieses Thema einmal etwas genauer zu beleuchten, denn heute Nacht begann nach 6 Monaten Sommerzeit wieder die Normalzeit, sprich: Heute um 03:00 Uhr nachts mitteleuropäischer Zeit wurden alle Uhren von einem Moment auf den anderen auf 02:00 Uhr zurückgestellt.

Man kann diesen Vorgang gar nicht genug bestaunen: Da wird etwas vermeintlich Unmögliches möglich, es ist ein Ereignis, das aus dem heutigen Tag plötzlich einen Tag mit 25 Stunden macht, eigentlich ein kleines Wunder. Die OEBB darf das anders sehen, sie muss schließlich buchstäblich über Nacht rund 4.000 Bahnhofsuhren zwischen Bodensee und Neusiedlersee umstellen, außerdem mehr als zwei Dutzend internationale Nachtzüge von einem Moment auf den anderen pünktlich-unpünktlich fahren lassen (ein Problem, das die österreichischen wie auch die anderen europäischen Eisenbahnlinien in fast schon salomonischer Weisheit lösen, indem sie die Züge einfach eine Stunde lang auf der jeweiligen Strecke stehen lassen …).

Aber ansonsten: Wir haben mit diesen 60 Minuten plötzlich ein echtes Mehr in unserem Leben, wir können eine „geschenkte Stunde“ lang mehr machen als wir gestern machen konnten.

Wenn Sie sich heute beispielsweise für 10:00 Uhr zum Frühstück verabredet hatten, aber nach langer (Viennale?) Nacht leider auch verschlafen haben, so dass Sie halbgar und kaum angezogen um 10:30 ins Cafe Ihrer Wahl hasten, scheinbar eine halbe Stunde zu spät, aber de facto eine halbe Stunde zu früh, dann passiert genau dieses Wunder: Jede Menge Zeit … alles gut … ein Kaffee ganz allein und in Ruhe noch die Zeitung … herrlich.

Die Integration unserer Schattenseiten funktioniert wie diese geschenkte Stunde: Schatten gehen niemals verloren, sie verlagern sich nur – in die Schattenräume unseres Bewusstseins, wo sie lebendig bleiben, wo wir aber keinen Zugriff auf sie haben. Wenn diese Teile im Verlauf der Schattenarbeit zurückkommen, dann kommen mit ihnen ganz neue Kräfte, ganz neue Gefühle und ganz neue Ideen zu uns. Und ein Faszinosum besteht darin, dass genau die Fähigkeiten zu uns zurückkommen, die wir gerade gut gebrauchen können – plötzlich wird beispielsweise aus der Angst, allein zu sein, der Mut, etwas Neues zu probieren. Oder die jahrelange Frage, wie wir denn beruflich weitermachen, findet statt der alten Antworten ohne Fortschritt auf einmal neue Ideen mit Konsequenzen.

Wir sind mehr geworden. Das Verlorene ist wieder da.

Und das für weit mehr als nur eine Stunde …