Es genügt neuerdings ein Elternabend, eine längere Fahrt mit dem Zug oder ein unfreiwillig mitgehörtes Gespräch am Tisch hinter einem und ein seltsamer Eindruck drängt sich auf – die Psychologie übernimmt gerade die Sprache.
Wohin man auch hört: Praktisch jeder ist gerade von irgendetwas getriggert und überall lauert ein Trauma; in jeden wird etwas hineinprojiziert und wir alle sagen nicht einfach etwas, sondern spiegeln irgendjemandem irgendetwas. Beziehungen sind quasi grundsätzlich toxisch, Arbeitsverhältnisse aber auch und der Kollege R. erscheint völlig manisch, so wie der sich benimmt, während die Kollegin H. hartnäckig alle Red Flags ignoriert, die das Team ihr gesetzt hat, da agiert dann wohl das Innere Kind.
Woher kommt dieser inflationäre Psycho-Speak, dieses „Psüchisch„, wie wir es hier einmal nennen wollen? Warum werden Alltagserfahrungen plötzlich als komplexe medizinische Gebilde beschrieben und die Banalitäten des Lebens als hochinteressante Bedeutungsschwangerschaften ausgegeben?
Ist das ein Zeichen für Fortschritt und Öffnung? Wird damit eine zunehmende Bereitsschaft und Fähigkeit abgebildet, über Gefühle zu sprechen? Ist das alles daher unbedingt zu fördern und gutzuheissen, weil damit der Gefühlswelt endlich der Raum gegeben wird, den sie verdient?
Wir haben da unsere Zweifel: Denn das Herumwerfen mit psychotherapeutischen Worthülsen beschreibt weder wirkliche Gefühlskompetenz noch irgendein wirkliches Interesse am Gegenüber. Es findet nämlich auffällig oft zum Zwecke der eigenen Selbstdarstellung und Selbstveröffentlichung statt – sich über trigger zu beklagen, klingt dramatischer und gefühlskompetenter, als einfach nur genervt zu sein. Ein burn-out hat sprachlich einfach mehr Wucht und Klasse, als sich überfordert zu fühlen. Mit „Psüchisch“ will nicht so sehr etwas gesagt werden, sondern es soll etwas bestimmt werden, nämlich wer Recht hat. Man kann auf diese Art eine gefühlskompetente und empathische Persönlichkeit darstellen ohne wirklich gefühlskompetent und empathisch sein zu müssen. Viele Menschen breiten ihr Seelenleben zudem gerne im Internet aus, wo auf jeden Post mit #Traumadump ein Like, und auf jeden Like ein Dopaminstoß folgt. Der Satz „Ich wurde von einem pathologischen Narzissten geghostet“ klickt ungleich besser als „Ich Trottel bin auf einen Idioten hereingefallen“.
Das authentische und wirksame Sprechen über Gefühls- und Seelenwelten wäre seinem Wesen nach etwas ganz anderes – ein sehr diskreter und privater Akt, der nur in begrenztem Maß Öffentlichkeit verträgt und nur in sehr begrenztem Maß Rechthaberei oder Ungenauigkeit. Die Dauerpsychologisierung des Alltags klärt und erklärt die Dinge nicht, im Gegenteil – sie verwischt sie.
Und wer weiss, vielleicht ist das am Ende auch der wahre Grund für dieses sprachlose Sprechen – „Psüchisch“ ist eine Benutzeroberfläche, mit der eine echte innere Öffnung und eine echte Berührbarkeit vermieden wird. Wenn wir aufrichtig und ungekünstelt sein wollen, dann müssen es auch unsere Worte sein.
Wenn Sie das jetzt triggern sollte: Wir können uns natürlich jederzeit ganz untoxisch über ihre Muster unterhalten …