01 / 07 / 21
LEUCHTSPUR. Der Blog von Stefanie Körber und Stefan Pott

Von Tigern und Eisbären.

(Eine fabelhafte Geschichte für alle, die in ihrer eigenen Familie fremd sind.)

Es war einmal eine Eisbärenfamilie. Muttereisbär, Vatereisbär, dazu zwei Kindereisbären, die taten, was Eisbären eben so tun: Sie waren sehr weiß, liebten die Kälte und taten sich am Fisch gütlich, den sie mit ihren riesigen Pranken aus dem Wasser zwischen den Eisschollen zogen und wenn der Tag ein besonderer war, dann verspeisten alle zusammen eine der Robben, die sich im Eismeer unter ihnen tummelten wie anderswo die Schwalben am Himmel.

Es war eine gute Eisbärenfamilie, und um sie herum waren andere Eisbärenfamilien, die alle EISBÄRENFELLHAARGENAU so lebten wie sie, niemand machte etwas anders oder war anders und das war für alle sehr beruhigend, denn wenn alle so lebten, wenn wirklich alle um einen herum so lebten – dann musste das wohl richtig sein. Und alles andere entweder falsch oder bedeutungslos.

Eines Tages aber passierte etwas sehr Besonderes: In die Eisbärenfamilie wurde ein Tiger geboren. Er hatte ein bernsteingelbes Fell und unruhig über den ganzen Körper verlaufende schwarze Streifen, außerdem eine Vorliebe für Wärme und Farben und eine substantielle Abneigung gegen Fisch, die nur noch von seiner Abneigung gegen Robben übertroffen wurde. In seinen Träumen kamen keine Eisberge vor, sondern rauschende Bambuswälder und ein dunkelgrüner Dschungel voller Farben und Geräusche.

Am fremdesten, am unbegreiflichsten und am unmöglichsten war dem Tiger aber der Winterschlaf, zu dem sich die Eisbären jedes Jahr zurückzogen – jedes Mal freudig und mit ihrem allerdicksten weißen Pelz bekleidet. Der Tiger hatte versucht, diese monatlange Bewegungslosigkeit in einer kalten, dunklen Höhle zu ertragen, er hatte es wirklich versucht, aber es war ihm unmöglich. Und je älter er wurde, um so mehr brachten ihn diese Tage, Wochen und Monate der Verzweiflung näher, vor der er sich nur retten konnte, indem er einsam im großen Weiß herumlief – diesem unendlich großen Weiß, das ganz eindeutig nicht seine Welt war und wie es schien trotzdem immer seine Welt sein würde.

Der Eisbärenfamilie war natürlich nicht entgangen, dass da ein ganz besonderes Wesen unter ihnen war. Dieses Kind war anders, irgendwie, und sie reagierten darauf, wie sie auf alles reagierten, was ihnen fremd war – gar nicht. Sie taten einfach so, als ob nichts wäre, jedenfalls nichts, was in irgendeiner Form eine Veränderung oder Reaktion von ihrer Seite erfordert hätte. Sie konnten nicht verstehen, was oder wer da plötzlich bei ihnen war, sie nahmen nur das Anderssein wahr und entwickelten daraus die Entschlossenheit, darauf in keiner Form einzugehen. Denn ihre Welt war eine Eisbärenwelt.

Sie waren die Vielen.

Und dieser Umstand gab ihnen ganz still, ganz heimlich, ganz lautlos ein ganz wunderbares Gefühl, eine Kraft und Sicherheit, die jeder einzelne Eisbär wenn schon nicht ausstrahlen, so jedoch tief innen für sich empfinden konnte:

Sie waren die Richtigen.

Obwohl Gedanken nirgendwo geschrieben und nirgendwo zu hören sind, konnte der Tiger diese Gedanken auf der Stirn seiner Eltern lesen und auch auf der Stirn seiner Geschwister und der zahlreichen Onkel und Tanten, Freunde, Bekannten und Nachbarn der Eisbärenfamilie. Jeden einzelnen Buchstaben konnte er lesen und als er es zum ersten Mal las, da kroch ein Gefühl in ihm hoch, das sich anfühlte, als ob das Herz erfrieren würde, und zwar von innen, nicht von außen. Und der Tiger wusste, wie dieses Gefühl hieß, es hieß „Fremdheit“ und er erlebte es in seiner schlimmsten Form nämlich der „Nichtdazugehörfremdheit“, deren allerschlimmste Form wiederum die „Inderfamilienichtdazugehörfremdheit“ war. Es  war das schrecklichste Gefühl der Welt, fand der Tiger, noch viel schrecklicher als die Kälte und der Fisch und als der Tiger wieder einmal gelb und schwarz auf blau gefrorenen Pfoten durch das Große Weiß streifte, während die anderen Winterschlaf hielten, da fasste er einen Entschluss: Er beschloss, mit dem schrecklichsten Gefühl der Welt Schluss zu machen und endlich so zu werden, wie alle anderen um ihn herum – ein Eisbär unter Eisbären, ein Teil der Welt, so wie sie nun einmal war, niemandem mehr fremd und vor allem nicht mehr fremdartig. Der Tiger beschloss, ein Eisbär zu werden…

(Sie ahnen es: Das wird nicht funktionieren. Aber es wird den Tiger auf den richtigen Weg bringen und wie der aussieht, das steht im nächsten Blog.)